Dienstag, 13. August 2013

Umzug

Umgezogen:

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Dienstag, 16. November 2010

Die weißen Tauben sind müde

1. Im November 1980 wurde der „Krefelder Appell“ veröffentlicht, der als Gründungsdokument der Neuen Friedensbewegung gilt. Die Hauptforderung des Appells, der in den nächsten Jahren millionenfach unterschrieben wurde, war der Verzicht auf die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles, die gemäß Nato-Doppelbeschluß 1983 stationiert werden sollten. Man hatte also drei Jahre Zeit zum Dagegensein. Dreißig Jahre später erscheint das alles etwas angestaubt und komisch. Unglaublich aber, wie selbstgewiß die Friedensbewegung damals auftrat. Ein Einverständnis mit ihren Zielen versprach moralische Überlegenheit, das Dagegensein war sozusagen kriminell und faschistisch. Frieden schaffen ohne Waffen, das war in den Schulen und Universitäten Anfang der 80er Jahre der Mainstream.

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Haben viel zu schwere Flügel und ihre Schnäbel sind längst leer


2. Die prä-digitale Kopierer- und Ausschneide-Ästhetik der Flugblätter und Schriften ist heute allenfalls seltsam. Ebenso die appellative Grundhaltung aller dieser Schriften: man muß dagegen sein, protestieren, sich wehren, aufstehen etc. Es wurde gegangen, gelaufen, gekocht, gebacken, geschwiegen, gepfiffen und so weiter für den Frieden. Vor allem auch ostermarschiert. Es schien fast greifbar, an eine Umwidmung von Ostern zu denken, vom Auferstehungsfest zum Friedensfest, wobei für viele christlich gefärbte Bewegte das auch das gleiche war. Und für den Frieden war auch immer gegen Schmidt, gegen Kohl und vor allem gegen Reagan. Nachrüstung, Doppelbeschluss, Nulllösung wurden allgemein geläufige Begriffe, die heute allenfalls nostalgisch schimmern, ohne dass man genau wüßte, was eigentlich dahintersteckte. Bemerkenswert war auch, wie sehr sich die Friedensbewegung ausschließlich auf den Nachrüstungsbeschluß kaprizierte: gewiß war man gegen alle Atomwaffen im Allgemeinen, aber man kämpfte lieber gegen die Mittelstreckenraketen im Speziellen, als erreichbares Ziel. Allerdings auch als Ziel, das verfehlt werden konnte.

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Frau in langem Rock tritt gegen eine Bombe

3. Im November 1982 enterte ein ganz seltsames Lied die deutschen Hitparaden. Hans Hartz sang „Die weißen Tauben sind müde“. Hartz war weder Mitglied der Friedensbewegung noch der Neuen Deutschen Welle, sondern war irgendwie dazwischen, trat auch in der ZDF-Hitparade an und erinnert mich bis heute vor allem an Klaus Lage (mal sehr neutral formuliert). In den müden weißen Tauben textete er allerdings sehr prophetisch, obwohl diese Zeilen gewiß anders gemeint sind:

Die weißen Tauben sind müde, sie fliegen lange schon nicht mehr. /
Sie haben viel zu schwere Flügel; und ihre Schnäbel sind längst leer, /
jedoch die Falken fliegen weiter, sie sind so stark wie nie vorher; /
und ihre Flügel werden breiter, und täglich kommen immer mehr, /
nur weiße Tauben fliegen nicht mehr.

Das hat sich alles auf eine merkwürdig verdrehte Weise als richtig herausgestellt. Im Jahr 1981, als das Lied ursprünglich entstand, konnte das Hans Hartz allerdings nicht wissen.

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Weiß, mit Flügeln, aber keine Taube

4. Dann war es im November 1983 vorbei: die Kohl-Regierung beschloß endgültig, dass die Raketen aufgestellt werden. Es gab natürlich noch erhebliche Proteste, Demonstrationen, Ostermärsche etc., aber die Luft war tatsächlich jetzt heraus, so ähnlich wie bei der Neuen Deutschen Welle. Es gibt heute eine weitere Neigung, die Geschehnisse zu verklären: gerade durch die Stationierung wurde die UdSSR gezwungen, weiter in den Rüstungswettlauf einzusteigen, damit war sie ruiniert, und Gorbatschow hat sie dann abgewickelt usw. usw. Aber: war das wirklich so?

5. Das wichtigste Ereignis für den Beginn der Abrüstung und das Ende des Kalten Kriegs hatte schon längst stattgefunden, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Es war das Jahr 1974, und Grigori Wassiljewitsch Romanow, Erster Sekretär des Gebietskomitees von Leningrad und Mitglied des ZK der KPdSU, ließ die Hochzeit seiner Tochter feiern. Nicht nur, dass er zur Hochzeitsfeier in der Eremitage auftischte, sondern er ließ auch das Porzellan der Zarin Katharina II. eindecken. Offenbar war es eine laute und fröhliche Hochzeit, denn es ging einiges zu Bruch. Aber das war zunächst nicht schlimm. Romanow machte weiter Karriere und Anfang der Achtziger galt der extrem konservative und betonköpfige Politiker als erster Anwärter auf den Posten des Generalsekretärs. Bis ein gewisser Herr Gorbatschow begann, gezielt Gerüchte über die Hochzeitsfeier zu streuen. Eremitage, die Zarin, das zerstörte Porzellan und dann noch der unglückliche Nachname Romanow – das war alles etwas zu viel. Und 1985 mußte er sogar aus dem ZK zurücktreten. Hätte es nicht diese Feier gegeben, wäre er wahrscheinlich Generalsekretär geworden. Er wurde übrigens steinalt und ist erst 2008 mit 85 Jahren gestorben. Also kurz vor der 60-Jahr-Feier der DDR.

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Das Porzellan, das den Kalten Krieg entschied

6. Und damit ist die Geschichte ganz anders verlaufen, als man das sich damals so gedacht hat. Immerhin ist dabei nur ein bißchen Porzellan kaputt gegangen. Besser als gleich die ganze Welt.

Dienstag, 12. Oktober 2010

Die Ordnung der gelesenen Dinge

1. Im Hugendubel Kurfürstendamm ist seit einiger Zeit der dritte Stock fast leer. Sie haben nur den Service sowie Film und Kunst dort belassen und den Rest in den zweiten und ersten Stock verräumt; das Erdgeschoß ist wie immer bei Hugendubel dem Ramsch vorbehalten. Für eine Buchhandlung, deren Angestellten stets nur beauskunften, wo dieses oder jenes Buch stehen müßte, wenn es denn eventuell da wäre, fände ich eine derartige Optimierung bemerkenswert - also wenn das Management herausgefunden hätte, dass Drittstockbücher (Verwaltungsverfahrensgesetz, Evangelisches Gesangbuch, Technische Physik für Elektroingenieure) nicht so gut gehen und deshalb das menschliche Wissen zukünftig nur bis zum zweiten Stockwerk reicht. Wahrscheinlicher ist allerdings die Vermutung, das Gesamtsortiment gestrafft wurde, ein halber Meter Lyrik weniger, die Manesses zweireihig, die Philosophie ein wenig auskämmen, und schon paßt der Zweistöcker.

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Der Babywickelraum befindet sich im 2. Obergeschoss

2. Es gibt einige Institutionen der Universalität, die die bis zu einem bestimmten Grad, ihrer jeweiligen Reichweite, die Welt als Ganzes beschreiben und nicht nur einen engen und beschnittenen Ausschnitt. Dazu zählen etwa das Lexikon, das Branchentelefonbuch, das Kaufhaus und auf eine ganz eigenartige Weise auch der Buchladen. In ihm sind nicht die Dinge selbst vorhanden (wie im Kaufhaus), nicht die mit den Dingen beschäftigen Firmen (Branchenbuch), sondern mit all seinen Büchern die Beschreibungen der Dinge. Ein Buchladen ist ein begehbares Lexikon, doch jeder Artikel ist wieder ein eigenes Buch. Deshalb ist es besonders interessant, wie ein Buchladen sortiert ist – im Gegensatz zur Bibliothek wird seine Ordnung nicht durch einen überkommenen bibliographischen Kanon bestimmt, sondern danach, was verkauft wird. Eine Buchhandlung enthält damit nicht nur die Beschreibungen der Welt, sondern auch ihre Ordnung.

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Das "Lexikon des Unwissens" finden Sie unter "Wissen"

3. Zumindest die Ordnung der Leser und des Gelesenen, und das durchaus mit Variationsmöglichkeiten. Die Buchhandlung Marga Schoeller in der Berliner Knesebeckstraße sortiert ihre Belletristik nach „Aus dem Russischen“, „Aus dem Englischen“ etc. Das ist ein kleines Kompliment an den Kunden, der natürlich weiß, in welcher Sprache sein Nabokov geschrieben hat. Die größte und augenfälligste Unterscheidung in jeder Buchhandlung jedoch liegt zwischen Belletristik und Sachbuch, zwischem dem Erfundenen und Vorhandenen, eine für uns selbstverständliche wie doch bemerkenswerte Unterscheidung. In der erwachsenen Belletristik finden wir dann folgende Abteilungen, die ich einfach mal nur aufzähle, ohne daran herumzudeuten:
a. Das Verbotene und das Verbrechen (Krimi)
b. Das in der Zukunft vielleicht Mögliche (Science Fiction)
c. Das in der Vergangenheit vielleicht möglich Gewesene, für Frauen (Historische Romane)
d. Das bestimmt Unmögliche, und mit seltsamen Wesen und Vampiren (Fantasy)
e. Bücher von Stephen King und seinen Freunden (Horror)
f. Das Gereimte (Lyrik)
g. Alles andere, also ungereimt heute Mögliches ohne zu viel Verbrecherisches (Romane)

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Das innere Kind, Narzißmus und Schizophrenie

4. Die Konjunkturen und Moden der Belletristik (Manga, Vampire etc.) finden sich auch bei den Sachbüchern, denen eigentümlich ist, noch wesentlich tiefer und genauer gegliedert zu werden. So scheint jede Geheimlehre und jeder Hokuspokus, den sich die Elben, Elfen, Hexen, Kobolde und der Fantasyabteilung jemals ausgedacht haben, in der Esoterikabteilung ein eigenes kleines Fach zu haben. Die kräuterfreie, aber testosterongesättigte Esoterik der Managementliteratur steht zur besseren Unterscheidung in der entgegengesetzten Ecke. Dazwischen, in der populären Psychologie, findet man die Ratgeber entlang des Lebenslaufes, während der Schwangerschaft, bei der Geburt unter und über Wasser, bei der aufmerksamkeitsdefizitiären Kindheit, der Partnerwahl, beim Glück mit ihm und ihr oder Unglück ohne ihn und ohne sie, vom ersten grauen Haar bis zur Feuerbestattung. Dahinter, daneben, davor alles, was man sich von der Astrophysik, dem Trennkost, derm Verwaltungsverfahrensgesetz, der organischen Chemie, der Fahrradreparatur jemals zu wissen wünschen könnte, alles in einer geheimen und doch offenbaren Ordnung.

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Gedächtnisbild. Links: Turm zu Babel (im Bau)

5. Das alles paßt beim Hugendubel mittlerweile auf die ersten beiden Stockwerke. Und vom dritten Stock aus, zwischen den Kunstbüchern, die auf den Regalen stehen wie die stillen, schönen Schwestern früherer Freunde, da hat man einen ganz ausgezeichneten Blick auf die Gedächtniskirche.

Samstag, 8. Mai 2010

Supertweets

Etwas spät, aber doch noch etwas über den Supertweet-Wettbewerb, der letzte Woche zuende gegangen ist. Ich habe mich sehr gefreut, den sechsten Platz geschafft zu haben. Die Faszination von Twitter einem Unbeteiligten zu erklären, ist nahezu unmöglich, deshalb hier nur einige wenige Aspekte: es ist die Schönheit der Natur, wenn man frühmorgens am nebligen Ufer sitzt, es ist die Vorfreude, wenn man einen schleimigen Wurm auf einen Haken aufspießt, damit er sich vor Schmerz windet, und nicht zuletzt der Stolz, wenn man dann einen Prachtkerl herausgezogen hat und ihm den Bauch aufschlitzt, damit die Innereien inklusive Fischscheiße herausflutschen. Herrlich!

Abgesehen davon ist es eine ganz besondere Herausforderung, nur 140 Zeichen Platz zu haben, um etwas aus Buchstaben zu machen. Beachtenswert ist, was alles nicht funktioniert, und faszinierend, was trotzdem geht. Nebenbei las ich, dass einige Mitleser von den Wettbewerb-Tweets enttäuscht waren. Dazu möchte ich kurz etwas erklären. Eines der absolut wichtigsten Qualitäten eines guten Tweets ist meiner Meinung nach eine gewisse lockere Eleganz und Unangestrengtheit. Gute Tweets kommen aus dem Handgelenk. Guten Tweets sieht man nicht an, ob der Autor eine Stunde, einige Tage oder eine Woche darüber gebrütet hat. Sie lesen sich so, als wären sie in zehn Sekunden ausgedacht und in einem Augenblick heruntergeschrieben (Ich meine damit jetzt ausdrücklich nicht meine eigenen Tweets, die kann sich jeder durchlesen und entscheiden, ob ich selbst meinen Anforderungen genüge). Da die Tweets erst eingereicht und anschließend veröffentlicht wurde, kann es natürlich gut sein, dass diesen Korallen Farbe und Glanz verloren ging, sie zu einem Ballett in Gelatine wurden.

Hinzu kommt noch etwas anderes – das Funktionieren vieler Tweets hängt ebenfalls davon ab, wer es schreibt. Die Konstruktion der Identität eines Twitterers ist wiederum ein längerer Prozeß, es hängt etwa von seinen vorherigen Tweets ab bis hin zu seinem Profilbild. Zu Illustration hier einmal drei Tweets von Badbanana:

Erstes Beispiel
Zweites Beispiel
Drittes Beispiel

Vielleicht wären diese Tweets unlustig oder geschmacklos, wenn nicht genau er, Badbanana, sie schreiben würde. Lakonie ist nicht nur ein Inhalt, sondern vor allem auch ein Verdienst (deshalb ist Lakonie auch gerade eine Domäne älterer Komiker). Das macht zusammengenommen den Wettbewerb nicht einfacher, da in den entscheidenden Runden die Tweets (gerechterweise) anonym getwittert wurden. Insgesamt soll das keine Kritik am Reglement oder den Veranstaltern sein – ich wüßte nicht, wie man es anders machen sollte, ohne haarsträubende Ungerechtigkeiten zu riskieren. Es geht schlichtweg nicht anders. Das Schwierigste ist dann, die Tweets trotz dieser Beschränkungen locker zu halten.

Dennoch eine sehr gelungene Veranstaltung. Das waren mehr als 140 Zeichen.

Donnerstag, 15. April 2010

Ich wär so gern in Dahala Khagrabari

Kürzlich las ich über Enklaven, oder Exklaven, was das gleiche ist, nur andersherum gesehen, und stieß auf den den interessanten Komplex der indisch-bangladeschischen Exklaven. Es heißt tatsächlich „bangladeschisch“, obwohl das blöd klingt und „bangladeschoid“ oder „bangladeschesk“ schicker gewesen wären. Wie auch immer, der gesamte Komplex an östlichen Grenze Indiens besteht aus 102 indischen Enklaven in Bangladesch und 71 bangladeschischen Enklaven in Indien. Innerhalb der indischen Enklaven gibt allerdings wiederum 21 bangladeschische Unterenklaven, also Enklaven in Enklaven. Und, das ist einmalig auf der Welt, es gibt dort eine indische Unterunterenklave, die einzige Enklave dritter Ordung auf der Welt, ein 7000qm großes Jutefeld namens Dahala Khagrabari. Nochmal zum Mitschreiben: Dahala Khagrabari ist eine indische Enklave, welche in einer bangladeschischen Enklave liegt, welche in einer indischen Enklave liegt, welche in Bangladesch liegt. Und das, liebe Inder, liebe Bangladeschianer (?), muss Euch erstmal einer nachmachen.

Montag, 1. Februar 2010

Imogen

Die Rognitzstraße ist eine kurze, leicht zu übersehende Straße am Berliner Funkturm. Sie wird vom achtspurigen Kaiserdamm in der Mitte zerschnitten, so daß von ihrem südlichen Teil kaum mehr ein 100m langer Stummel zwischen S-Bahn-Trasse, Autobahn und einer Brache zum Messedamm übrig bleibt. Sie ist zwar von vielbefahrenen Straßen umgeben, aber sie selbst ist seltsam verlassen und abgelegen. Als Vorbeifahrender übersieht man sie oder hält sie für eine Grundstückseinfahrt. An der östlichen Straßenseite verläuft ein Geländer zur S-Bahn-Trasse und Stadtautobahn, die hier den Kaiserdamm unterqueren. Es ist laut. Die einzigen Passanten hasten von der S-Bahn-Station Messe-Nord zum Finanzamt. Sie laufen an einem hellblauen Gebäude vorüber, das die Telekom vor einigen Jahren aufgegeben hat. Vorher war hier dort eine unwichtige Abteilung von T-Systems untergebracht, aber selbst denen war es hier zu sehr Sibirien. Die Rolläden im Erdgeschoß sind heruntergelassen. An der Südseite sind einige lustlose Graffiti.

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Video Killed The Rundfunkstar


Und doch ist es ein ganz bemerkenswerter Ort. Genau hier, an dieser Stelle, wurde das Fernsehen erfunden. Das Gebäude gehörte früher der Deutschen Reichspost, uns hier war das Fernsehlaboratium, in dem ab Ende der Zwanzigerjahre die technischen Grundlagen des Fernsehens gelegt wurden, und zwar als weltweite Pioniere. Hier, genau hier hat alles angefangen, von Peter Frankenfeld über das Laufende Band bis Denver Clan, den Simpsons und den Gilmore Girls.

Eine interessante Frage ist, was denn so ganz im Anfang gezeigt wurde. Vielleicht erinnert sich noch jemand an den Film „Contact“ mit Jodie Foster. Die Außerirdischen von der Wega senden die ersten Fernsehsignale zurück, die sie von der Erde empfangen haben. Es handelt um Hitlers Eröffnungsrede von den Olympischen Spielen. Das ist natürlich Blödsinn, aber weiß man überhaupt noch, wer die ersten Personen waren, die jemals im Fernsehen zu sehen waren?

Man weiß es. Sie hießen Imogen Orkutt und Schura von Finkelstein.

Ab 1929 gab es Versuchssendungen der Reichspost, bei denen tonlose Testbilder übertragen wurden. Allerdings waren es keine starren geometrischen Testbilder, sondern immer wieder täglich derselbe einzige Film. Es war ein Versuchsfilm mit den zwei Mädchen, den man im vorangegangenen Jahr am Wannsee gedreht hatte. Diese beiden Mädchen waren die ersten Menschen, die als Fernsehbild übertragen wurden. Zwei Mädchen in Badeanzügen singen ein Lied (es ist übrigens „Horch was kommt von draußen rein“) und lachen sich an. Das war der Anfang vom Fernsehen.

Dazu kurz zu den technischen Grundlagen: Fernsehen unterscheidet sich grundlegend vom Kino. Beim (analogen) Kino wird einfach das belichtete, transparente Zelluloid durchleuchtet und damit erscheint ein Bild auf der Leinwand. Beim Fernsehen ist das nicht möglich, denn man würde ja für jeden Bildpunkt (Pixel) einen eigenen Übertragungskanal verbrauchen. Also wird das Bild einfach gerastert und zeilenweise ausgelesen: ein Fernsehbild wird nicht in einem Stück übertragen, sondern es wird abgetastet. Das gilt im wörtlichen Sinne für die ersten Fernsehansagerinnen, die in winzigen Kabinen saßen und sich von der Fernsehkamera abstrahlen lassen mußten. Um nun nicht immer nur live senden zu müssen, griff man zu einem Trick, um Filme übertragen zu können: man legte den Film in einen sog. Linsenkranzabtaster, der den Zelluloidfilm ableuchtete und zu einem Fernsehbild rasterte. So war es möglich, daß der Film mit den Mädchen dauernd wiederholt ausgestrahlt werden konnte.

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Links Imogen Orkutt, rechts Schura von Finkelstein


Die ersten Fensehzuschauer waren mehr oder weniger interessierte Amateure mit winzig kleinen Bildschirmen. In der Anfangszeit waren die Gesichter mehr oder weniger vermatschte Flecken, aber mit zunehmender Auflösung stieg auch die Bildqualität. Irgendwann konnte man sogar den Leberfleck auf Schura von Finkelsteins Gesicht entdecken. Es gab auch damals schon Fernseh-Zeitschriften, allerdings völlig anders als heute: die Fernsehtechnik-Amateure tauschten sich dort aus, bei welchem Wetter, mit welcher Antenne und an welcher Stelle sie Imogen und Schura am besten empfangen hatten.

Einige Jahre später war die Technik dann so weit entwickelt, daß man während der Olympischen Spiele ein Live-Programm in öffentlichen Fernsehstuben zeigen konnte. So ist es nicht ohne Ironie, daß ganz am Anfang des Fernsehens ein Konzept sehr wichtig war, das erst viel später richtig erfolgreich wurde: das Public Viewing. 1936 in den Fernsehstuben der Reichspost und 2006 auf der WM-Fanmeile. Und schon ab 1937 übertrag man erste Fernsehshows. Wer weiß – vielleicht findet man noch irgendwo eine Aufzeichnung von Wer wird Millionär? in Reichsmark.

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So läuft das Fernsehgeschäft: Frischluft von oben rechts
(Quelle: Lipfer, Fernsehen, 1938)

Aber zurück zu den beiden Fernsehmädchen: die beiden haben für die Aufnahmen je 25 Mark bekommen. Imogen arbeitete als Verkäuferin von Kinderkleidung, schauspielerte ein wenig und heiratete 1931 den Chirurg Georg Cohn. 1939 flohen sie nach Palästina. Sie ist sogar später nach Deutschland zurückgekehrt. Bis 1990 hatte sie einen kleinen Tabakladen in München, direkt neben dem Arri-Kino in der Türkenstraße. Damit ist die Wahrscheinlichkeit extrem hoch, daß die erste Frau im Fernsehen mir irgendwann einmal ein Schachtel Zigaretten verkauft hat. Wahrscheinlich eine P&S. Im Jahr 2000 ist sie mit 93 Jahren gestorben.

Montag, 4. Januar 2010

Das Tunguska Ereignis

Als ich heute morgen die Tür öffnete, stellte ich fest, daß ich jetzt in Sibirien wohnte. Offenbar bin ich letzte Nacht versehentlich umgezogen. Zum Glück mußte ich nur zum Pennymarkt. Kaum hatte ich einige Meter zurückgeleg, war ich heilfroh darüber, wenigstens nicht die Leerguttüte mitgenommen zu haben. Eine solche Last hätten meine treuen Schlittenhunde nicht lange ziehen können. Ich hätte die Tüte mit 3 Euro 25 Cent Einwegpfand im ewigen Eis zurücklassen müssen und gewiß wäre heute noch so ein Arschloch vorbeigekommen und hätte es mitgenommen. Wahrscheinlich hätte ich sogar noch einige meiner Schlittenhunde opfern und aufessen müssen. Der Pennymarkt war glücklicherweise an derselben Stelle wie bei der alten Wohnung und die dicke rothaarige Kassiererin ist auch mit nach Sibirien umgezogen, komisch eigentlich. Ich kaufte eine Dose Suppe, eine Pepsi-Light und eine Packung Sülzwurst. Das Toastbrot war noch vom Samstag, das habe ich ihnen glatt dagelassen. Allerdings werde ich somit morgen früh noch eine Expedition ausrüsten müssen. Auf dem Rückweg – der Wind pfiff mir mit 140 Stundenkilometer 30 Minusgrad kalt entgegen – fiel mir das Tunguska-Ereignis ein, das sich vor 100 Jahren in Sibirien ereignete. Das wäre was, wenn jetzt hier auch ein Komet explodieren würde! Damals hatte es 13 Jahre gedauert, bis überhaupt jemand dort vorbeigekommen ist, um sich den Schlamassel anzuschauen. 60 Millionen Bäume wurden damals umgeknickt. Ich bin mir gar nicht sicher, ob in Berlin inklusive Grunewald überhaupt so viele Bäume stehen. Da kamen mir meine Einwegpfandprobleme doch gleich klein und unwichtig vor.

Samstag, 12. Dezember 2009

Inhaltsstoffteleskopie

Die letzte Niederlage gegen den Tod ist nur selten plötzlich und schnell. Meistens bleibt es ein zäher und grausamer Abwehrkampf. Klar ist nur: wir werden ihn verlieren. Unbekannt bleibt aber: wann. Keinen Zentimeter geben wir freiwillig her. Häufig schlagen wir Angriffe erfolgreich zurück. Wir hören mit dem Rauchen auf. Wir fangen mit dem Laufen an. Allerdings gibt es auch Situationen, in denen wir die Front rasch begradigen müssen. Das sind die kleinen Niederlagen gegen Alter und Verfall.

Einer dieser Niederlagen wird man irgendwann an einer Supermarktkasse einstecken. Es ist der Moment, wenn man der Kassiererin erstmals das Kleingeldheraussuchen aus der Börse gestattet. Oder, noch entsetzlicher, dafür das ganze Kleingeld auf das Gummilaufband kippt. Man gesteht sich damit erstens ein, Geld nicht mehr richtig sehen zu können, zweitens, über nicht mehr ausreichend geschickte Finger zu verfügen, ein 2-Cent-Stück zwischen zwei Groschen hervorzufriemeln sowie drittens, zu dement zu sein, 68 Cent in einer Dezimalstückelung zusammenzurechnen.

Erschwerend kommt bei der heutigen Generation der 80jährigen hinzu, daß sie besessen davon sind, ihr stets beträchtliches Kleingeld auf einen Schlag wegzubekommen. Ich weiß nicht, woher sie das haben. Geboren wurden sie um 1930. Hat man ihnen in der HJ oder beim BDM eingeprügelt, das Kleingeld möglichst schnell loszuwerden? Hart wir Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie Windhunde, kleingeldfrei wie ein Schutzengel? Und, vor allem, warum haben sie dann noch immer so viel dabei?

Ich bin heute im Kaisers Markt gewesen. Dort geht man noch einen weiteren Schritt auf unsere älteren Kleingeldanleger zu. An die Einkaufswagen hat man links am Griff eine aufklappbare Lupe geschraubt. Eine Lupe! Nicht genug, an der Vorderseite des Einkaufswagen eine Reklame des Diakonischen Werks für häusliche Pflege lesen zu müssen, sondern Kaisers schraubt Lupen an die Wagen, damit Opa beim Rumkaufen den Pott 40 sicher vom Pott 54 unterscheidet. Ja, ja, ja, es ist immer alles so klein gedruckt auf den Packungen. Leute, ihr sollt da Chips, Bier und Shampoo kaufen. Und nicht auf Packungen lesen, ob Spuren von Nüssen enthalten sind! Nicht zu fassen - Vergrößerungsgläser, um die Inhaltstoffe von Leinsamenpackungen lesen zu können („Inhalt: Leinsamen“).

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Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

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